Völkerwanderung

Völkerwanderung: im weiteren Sinne eine durch innere Ursachen (gesellschaftliche Umschichtungen beim Übergang von der Gentilordnung zur Klassengesellschaft, Naturkatastrophen, relative Übervölkerung) sowie äußere Anstöße (zum Beispiel Hunneneinfälle) ausgelöste Bewegung mehrerer Stämme beziehungsweise «Völker», vorwiegend in Urgeschichte und Altertum, aber auch später. 1. e. S. seit Ende des 18. Jahrhundert von der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung als Epochenbezeichnung für die große Wanderungsbewegung der ost- und westgermanischen Stämme zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert nach Christus verwendet. Das Ziel dieser Wanderungen ergab sich meist daraus, dass die in der Militärischen Demokratie entstandenen aristokratischen Schichten und ihre Gefolgschaften neues Land und noch mehr Beute und Tribut von Völkern zu erlangen suchten, die unterworfen und beherrscht werden sollten. Seit dem 3. Jahrtausend vor Christus drangen die Wandervölker über die Gebirgsschwelle des 40. Breitenkreises in die Länder der Hochkulturen ein und überlagerten sie (Indien, China, Mesopotamien, Syrien, Ägypten). Im Zusammenhang mit den Wanderungsbewegungen der germanischen Stämme begann der Hauptansturm auf das römische Reich gegen Ende des 4. Jahrhundert Ausgelöst wurde die große Wanderlawine durch den Einbruch der Hunnen, die 375 das Gotenreich am Schwarzen Meer zerschlugen. Die Westgoten überschritten, um den Hunnen auszuweichen, die Donau und ließen sich, nachdem sie 378 bei Adrianopel ein römisches Heer geschlagen hatten, als Föderaten nieder; schließlich drangen sie nach Italien vor, eroberten Rom (410) und gründeten dann ein locker gefügtes Reich in Südgallien und Nordspanien. Die Ostgoten errichteten im letzten Viertel des 5. Jahrhundert ein Reich in Italien; die Wandalen zogen durch Gallien und Spanien bis nach Nordafrika, wo sie 429 ebenfalls ein Reich errichteten; an der Rhône entstand um die Mitte des 5. Jahrhundert das Burgunden Reich. Alle diese ostgermanischen Reichsgründungen hatten keinen Bestand, da die gesellschaftlichen Zustände im eroberten Gebiet nicht grundlegend verändert wurden. Seit Beginn des 5. Jahrhundert drangen auch die Westgermanen (Franken, Alemannen unter anderem) in Gallien ein. Bei ihnen war die Eroberung mit umfangreicher bäuerlicher Siedlung verbunden und führte zur Veränderung bestehender Produktionsverhältnisse. Seit dem 4./5. Jahrhundert beunruhigten Nomadenstämme (Hunnen, Awaren, Magyaren, Turkstämme) Ost-, Südost- und Mitteleuropa; die nomadische Expansionen erreichten im 12./13. Jahrhundert mit den Mongolen und Tataren unter Dschingis-Khan und ihren Staatengründungen in China, Zentralasien und Südrussland einen letzten Höhepunkt. Mit Beginn des 6. Jahrhundert gerieten auch die slawischen Völker in Bewegung; nach Westen stießen sie bis in die Gegend Erfurt, Halle und zur Unterelbe vor, im Süden erreichten sie den Peloponnes. Die Normannen verheerten seit dem 8. Jahrhundert Nordfrankreich, England und das Rheingebiet und siedelten sich vor allem in der Normandie und Ostengland an. Im 11./12. Jahrhundert siedelten sich Turkstämme im Gefolge der seldschukischen Eroberungen in den nördlichen Gebieten des Kalifats und in Kleinasien an.