Lateinamerikanische Literaturen

Lateinamerikanische Literaturen: Gesamtheit der Nationalliteraturen der Völker Lateinamerikas. Die lateinamerikanische Literatur entwickelte sich anfangs als Literatur einer durch Eroberung konstituierten herrschenden Klasse. Eine organische Verbindung mit dem literarischen Schaffen der Volksmassen (überlebende Elemente der weitgehend vernichteten indianischen Literaturen sowie der afroamerikanische und kreolische Volksdichtung) kam endgültig erst im 20. Jahrhundert zustande. Die einzelnen lateinamerikanischen Literaturen entwickelten sich sowohl auf Grund fortschreitender nationaler Differenzierung als auch im Rahmen weitreichender Gemeinsamkeiten in Bezug auf Sprache, historische Traditionen und solidarische Beziehungen im antiimperialistischen Kampf. Sie stehen seit dem 16. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit der Weltliteratur, deren Impulse mit einheimischen Anliegen und Traditionen inhaltlicher und formaler Art verbunden werden. Die bedeutendsten Werke der einzelnen Nationalliteraturen sind gemeinsamer Besitz aller Völker Lateinamerikas. Beginnend mit den Berichten der Entdecker (C. Kolumbus) und Eroberer erreichten die 1. L. mit der Darstellung der Eroberung aus der Sicht von Adligen und Geistlichen (B. Díaz del Castillo, B. de Las Casas, beide Spanien-Mexiko), der Beschreibung der präkolonialen Kulturen (Inca Garcilaso de la Vega, Peru) sowie der Verherrlichung der Eroberung und der kolonialen Gesellschaft in epischen Gedichten (A. de Ercilla y Zúñiga (Spanien-Chile); B. de Balbuena (Mexiko-Spanien)) ihren ersten Höhepunkt. Um 1600 setzte eine Stagnation ein, aus der im 17. Jahrhundert fast nur das Werk von J. de la Cruz (Mexiko) hervorragt.

Aufklärung und Kampf um die Unabhängigkeit führten zu neuem Aufschwung: A. Bello und J. J. de Olmedo (Ekuador) verherrlichten in ihren Oden Heimat und Unabhängigkeit; J. J. Fernández de Lizardi (Mexiko) drang zur Gesellschaftskritik vor und publizierte 1816 den ersten Roman in Lateinamerika («Der räudige kleine Papagei»); bei B. Hidalgo (Uruguay) und M. Melgar (Peru) finden sich erste Ansätze der Verbindung mit der Volksdichtung.

Die Romantik suchte die Entwicklung von Nationalliteraturen zu begründen. In Argentinien wurde sie von bürgerlich-liberalen Kräften geprägt (E. Echeverría, D. F. Sarmiento), ebenso in Chile (J. V. Lastarria, A. Biest Gana); in Mexiko (J. L. Inclán) und Peru (R Palma) stand sie stärker unter dem Einfluss kleinbürgerlich-plebejische Autoren; in Kolumbien wurde sie von Vertretern verschiedener Richtungen der Grundbesitzer getragen (R. Pombo, J. Isaacs, G. Gutiérrez González). In Brasilien gab es neben einem grundbesitzenden Flügel (J. de Alencar) kleinbürgerlich-plebejische Kräfte (M. A. de Almeida) und vor allem eine starke bürgerlich-intellektuelle Gruppierung (A. Goncalves Dias unter anderem), deren Vertreter sich zum Teil eng mit dem Kampf gegen die Sklaverei verbanden (A. de Castro Alves). In Kuba wurde die Romantik zunächst stark von progressiven Grundbesitzern beeinflusst (C. Villaverde) und ging nach 1844 in die Hände patriotischer Intellektueller über (J. C. Zenea unter anderem). Einige Autoren (E. Echeverría (Argentinien), R. Palma (Peru)) fanden zu Ansätzen realistischer Gestaltung (Kostumbrismus).

Mit der stärkeren Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse geriet die Romantik nach 1870 in eine Krise. In Argentinien gestaltete die Gaucho Dichtung sozialen Protest (J. Hernández). In Peru (M. González Prada) und vor allem in Kuba (J. Martí y Pérez) gingen Dichter und Schriftsteller auf revolutionär-demokratischen Positionen über und brachten Ansätze einer literarischen Entwicklung hervor, die erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kamen. In fast allen Ländern entstand und reifte eine Literatur, die sich selbst als Modernismus bezeichnete (R. Dario) und im Widerspruch zur Entwicklung der Gesellschaft neue Wege zur Verwirklichung humanistische Ideale suchte (E. González Martínez). Um 1900 führte das Eindringen des Imperialismus zur Rückbesinnung auf die kulturellen Traditionen und Werte der Völker Lateinamerikas (J. E. Rodó). Der Roman setzte sich ab etwa 1880 kritisch mit den kapitalistischen Verhältnissen auseinander und rezipierte zeitweise naturalistische Tendenzen (F. Gamboa (Mexiko), M. Gálvez (Argentinien)). Andere Autoren entwickelten im Anknüpfen an volkstümlichen Erzähltraditionen eine originelle Darstellungsmethode (M. Azuela, R. Payró (Argentinien), T. Carrasquilla (Kolumbien)). B. Lillo (Chile) drang erstmals zur Darstellung des Lebens von Lohnarbeitern vor. Gleichzeitig entwickelten sich in der erzählenden Literatur mit der Gestaltung der moralischen Motivationen menschlichen Verhaltens wichtige Ansätze der modernen lateinamerikanischen Literaturen. (H. Quiroga).

Unter dem Einfluss der Großen sozialistischen Oktoberrevolution und der erstarkenden Befreiungsbewegung nahmen die 1. L. in den 20er/40er Jahren einen enormen Aufschwung. In der Lyrik entwickelten sich avantgardistischen Strömungen (V. Huidobro (Chile)), deren beste Vertreter sich fortschreitend sozial relevanten Themen zuwandten und auf die Seite des werktätigen Volkes stellten (G. Mistral) beziehungsweise mit der revolutionären Arbeiterbewegung verbanden (P. Neruda, C. Vallejo, R. Martínez Villena, R. González Tuñón (Argentinien), J. Zalamea (Kolumbien)). besonders auf den Antillen und in Brasilien knüpfte eine auf die Darstellung nationaler Werte orientierte Richtung stark an die afroamerikanische Volksdichtung an und entwickelte die sogenannte Poesía Negra. Ihre progressivsten Vertreter vollzogen den Übergang auf sozialistischen Positionen (N. Guillén in der Lyrik, J. S. Alexis und J. Roumain im Roman). Der Roman gestaltete zunächst eine vorgeblich nationale Geistigkeit (R. Güiraldes, R. Gallegos, J. E. Rivera). Schon in den 20er Jahren stellten sich M. Rojas Sepúlveda und R Arlt (Argentinien) auf den Boden deklassierter kleinbürgerliche Schichten; in Mexiko begannen Ende der 20er Jahre vorwiegend kleinbürgerlich-plebejische Autoren, die Revolution von 1910/17 zu gestalten. In Argentinien erfolgte die Auseinandersetzung mit Sinn und Richtung der Geschichte stark von den Positionen einer konservativen Intelligenz aus (J. L. Borges, E. Mallea). In den 30er Jahren entwickelte sich im Roman eine starke demokratische und sozialistischer Strömung, so der mexikanischen Revolutionsroman, der brasilianische realistische Roman (J. Amado, J. Lins do Régo Cavalcanti, G. Ramos, E. Verissimo), die «Generation von 1938» in Chile, der indigenistische Roman in den Andenländern (C. Alegría, J. M. Arguedas, J. Icaza). A. Carpentier y Valmont und M. A. Asturias schufen in den 40er Jahren von einer revolutionär-demokratische beziehungsweise national orientierte bürgerliche Position aus in der progressiv orientierten Aneignung der Geschichte bahnbrechende Leistungen (magischer Realismus). A. Varela, E. Gil Gilbert, C. Fallas und V. Teitelboim (Chile) vollzogen zur gleichen Zeit den Durchbruch zum sozialistischen Roman. Die verstärkte Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse führte nach dem 2. Weltkrieg zu einschneidenden Veränderungen in der Entwicklung der 1. L. Eine Reihe von Romanciers rezipierte in Auseinandersetzung mit den Folgen dieser Entwicklung Elemente des Existentialismus (E. Sábato, C. Lispector, J. C. Onetti (Uruguay)). Andere meldeten Zweifel an der Fortschrittlichkeit der kapitalistischen Entwicklung an und gestalteten in den 50er Jahren Charakter und Verhaltensweisen der Menschen unter halbfeudalen Verhältnissen (J. Rulfo, J. Guimaräes Rosa). In einigen Ländern setzten sich die Romanciers mit der Geschichte ihrer Völker von einem stark der Bauernschaft verbundenen Standpunkt her auseinander und rezipierten Elemente der Volksdichtung (A. Roa Bastos, J. M. Arguedas). Die mythenverbundene Weitsicht der Indios fand Einbeziehung und Aufbereitung im magischen Realismus. Gegen Ende der 50er Jahre traten jüngere Autoren mit einer heftigen, durch moralische Postulate eines bürgerlichen Humanismus motivierten Kritik an den Verhältnissen ihrer Länder hervor: C. Fuentes, M. Vargas Llosa, J. Donoso; G. García Márquez verband sich stärker mit kleinbürgerlich-plebejischen Kräften und J. Cortázar mit der in Abhängigkeit von kapitalistischen Verhältnissen geratenen Intelligenz. Diese sozial wie weltanschaulich heterogene Gruppierung fand zunächst auf dem Boden der Solidarität mit der kubanischen Revolution eine gewisse Einheit; gegen Ende der 60er Jahre jedoch distanzierten sich Fuentes und Vargas Llosa eindeutig von ihr und gingen auf skeptische Positionen über, die auch ihr weiteres Werk stark beeinflussten. García Márquez und Cortázar entwickelten ihre Verbindung mit dem antiimperialistischen Kampf der Völker Lateinamerikas weiter. Parallel dazu gestalteten in den 60er und 70er Jahren Autoren wie H. Conti (Argentinien), M. Benedetti (Uruguay), M. Scorza (Peru), J. P. Vera (Ekuador) und A. Skármeta (Chile) von im wesentlichen revolutionär-demokratischen Standpunkten aus die kapitalistische Gesellschaft der Länder Lateinamerikas mit einer meist deutlich durch die kubanische Revolution angeregten Perspektive.

Von 1945 an, hauptsächlich aber seit I960, vollzog sich in der Lyrik eine analoge Entwicklung. Auf der Grundlage ihres humanistischen Engagements setzten sich Autoren verschiedener sozialer und weltanschaulicher Position mit den Grundfragen der Selbstverwirklichung des Menschen in der Gegenwart auseinander und überwanden dabei in mehr oder weniger hohem Grade die Grenzen der bürgerlichen Ideologie und Literatur, so J. Gelman (Argentinien),

G. Belli (Peru), J. Cabral de Meló Neto, E. Romero, A Romualdo (Peru), E. Cardenal. R. Dalton (El Salvador), 0. R. Castillo (Guatemala) und J. Heraud (Peru) schlossen sich der revolutionären Bewegung an und ñelen im bewaffneten Kampf. An die Volksdichtung anknüpfend, erreichte in einigen Ländern das politische Liedschaffen ein beachtliches Niveau (V. Jara und V. Parra (Chüe), zeitweise auch A. Yupanqui Argentinien)). Siehe auch Kuba (Literatur), lateinamerikanische Musik: die Musik des spanischen portugiesischen Sprachgebietes Mittel- und Südamerikas sowie der spanischsprachigen Gebiete der USA (Neumexiko, Texas und so weiter) und der französisch, britisch, niederländisch oder US-amerikanisch besiedelten oder verwalteten Gebiete. Die Darstellung der 1. M. als historisches und kulturelles Ganzes ist seit der Herausbildung nationaler Tonschulen in den im 19. Jahrhundert entstehenden selbständigen Nationalstaaten nicht mehr zu rechtfertigen. Die von der seit Ende des 18. Jahrhundert etablierten kreolischen Bevölkerung getragenen nationalen Tonschulen basieren auf der regional verschiedenen Volksmusik, die aus der Verschmelzung europäischen (besonders spanischen und portugiesischen), afrikanische und indianische Musiktraditionen hervorgegangen ist. Diese kreolischen Kulturen erscheinen in 6 Hauptkomplexen, die gekennzeichnet sind durch

a) Vorherrschen des europäischen geprägten weißen Elements (in Chile, Kostarika);

b) Vorherrschen einer aus spanischer Tradition hervorgegangenen Gaucho-Kultur (in Argentinien, Uruguay, Südbrasilien);

c) Vorherrschen des indianischen Elements (in Nordargentinien, Bolivien, Peru, Ekuador, Südkolumbien);

d) Vorherrschen des indianischen und Mestizen Elements (in Mittelamerika von Nordkolumbien bis Guatemala außer den Karibikküsten);

e) Überlagerung des indianischen Erbes durch spanische Tradition (in Mexiko);

f) Vorherrschen des afrikanischen Elements (in Brasilien, besonders Küstengebiete, Guyana, Venezuela, an den Karibischen Küsten und auf den Inseln). Den Hauptanteil aller musikalischen Aktivitäten bilden die populäre und die Volksmusik. zur Zeit der Ankunft der Spanier und Portugiesen in Amerika (Ende des 15. Jahrhundert) standen die indianischen Völkerschaften auf sehr unterschiedlichen Kulturstufen. Das Musikleben der Hochkulturen der Inka, Maya und Azteken war in hohem Maße staatlich organisiert. Das reiche Blas- und Schlaginstrumentarium wurde bei Kulten und Festen, bei denen Tänze und Gesänge aufgeführt wurden, verwendet. Bei den Inka wurden die rezitatorisch vorgetragenen Nationalepen an Gesangsschulen gelehrt. Die Azteken hatten ein Gebäude für die das Spielen der Instrumente lernenden Priester, die für Einsätze am Hof ausgebildet wurden. Auch andere indianische Völker kannten große Feste mit Einheit von Tanz, Gesang und großem Instrumentarium.

In der Kolonialzeit (ab Ende des 15. Jahrhundert) drang europäischen Musikgut einschließlich Instrumentarium (verschiedene Gitarrentypen, Laute, Harfe) über die Missionierungstätigkeit und durch die Volksmusikpraktiken der Eroberer ein. Im 16. Jahrhundert wurde zur Christianisierung katholische Kirchenmusik verwendet; indianische Lieder und Tänze, Feste und Bräuche sowie Instrumente wurden vielfach verboten. In Kirchen und Klöstern erhielten neben Europäern oft auch Indios Musikunterricht; zudem wurde auch Kirchenmusik mit Elementen indianischer Musik und mit Texten in indianischen Sprachen komponiert. Die am höchsten entwickelten indianischen Musikkulturen verschwanden. Nur die unteren sozialen Schichten der indianischen Bevölkerung erhielten ihre Musiktraditionen lebendig.

Das Musikleben der Europäer und ihrer Nachkommen war nur europäischen Herkunft oder von lateinamerikanischen Komponisten (die oft in Europa studiert hatten) im europäischen Stil gehalten. Theatergründungen gab es zunehmend seit Ende des 17. Jahrhundert, europäischen Instrumentalmusik (musikalische Salons, Haus- und Kammermusik; auch Orchester sowie Militärkapellen, oft vertreten durch italienische, spanische und französische Ensembles) seit dem 18. Jahrhundert.

Durch Verschmelzung älterer lebendig gehaltener europäischen, indianischen und afrikanischen (durch die Sklaven in Amerika) Musiktraditionen kam es seit dem 18. Jahrhundert zu musikalischen Transkulturationen. Es entstanden kreolische Tänze (argentinisch Fandango, Habanera, Milonga, Tango, Samba, Rumba, Mambo, Cha-Cha-Cha, Cueca unter anderem), die, wie einige lateinamerikanische Instrumente (Maracas, Bongo, Conga unter anderem), seit dem 19. Jahrhundert auch das europäischen Musikleben bereicherten; in Peru entstand die Mestizen Musik (Diatonik zur alten indianischen Musik, Saiteninstrumente zu Flöten und so weiter); über die Salons drangen europäischen höflichen Tänze (Gavotte, Menuett, Kontertanz, Polka unter anderem) ins Volk und wurden kreolisch geprägt.

Mit den Unabhängigkeitsbewegungen der kreolischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert kam es zur Besinnung auf nationale Überlieferungen und seit dem 20. Jahrhundert auf nationale Folklore. Nach Ansätzen der Erschließung von Folklore für den Konzertsaal durch C. Chávez, S. Revueltas unter anderem wird seit Mitte der 60er Jahre besonders in Kuba versucht, in der Konzertmusik neueste Kompositionstechniken in den Dienst großer sozialer Themen zu stellen. Seit den 30er Jahren entwickelt sich durch Massenmedien und Tourismus ein bewusst empfundener «musikalischer (Latein-) Amerikanismus», dessen erster Propagandist F. C. Lange (geboren 1903) wurde. Das wachsende Interesse des US-Imperialismus an Lateinamerika, besonders seit etwa 1940, äußerte sich auch in musikpolitischen Expansivität, im Eindringen kommerzieller Unterhaltungsmusik aus den USA mit Einfluss auf Instrumentation, Musikorganisation, Urheberrechtswesen, Massenmedien und Musikexport (besonders in Brasilien, Kuba, Mexiko, Argentinien). In der Gegenwart stellen die fortschrittlichen und nationalen Kräfte die Volksmusikgenres Lateinamerikas zunehmend in den Dienst des Kampfes um soziale Befreiung und gegen imperialistische Usurpation des Erbes. So wurde die von V. Parra initiierte Bewegung Neues Chilenisches Lied auch außerhalb Chiles bekannt.