Gotik

Gotik, (nach den Goten) gotischer Stil: Stilperiode der westeuropäischen mittelalterlichen Kunst zwischen Romanik und Renaissance, seit Mitte des 12. Jahrhundert bis Anfang des 15. Jahrhundert. Der Bezeichnung liegt ein Geschichtsirrtum der italienischen Renaissance zugrunde, demzufolge die Goten als Urheber eines «barbarischen», «kunstlosen» Mittelalters galten (Vasari); um 1820 wurde Gotik Stilbegriff. Entscheidend für das Entstehen der Gotik, zunächst in Frankreich, war die Entwicklung der Produktivkräfte, die unter anderem zum Entstehen von Bürgerstädten führte. Verbesserte Technik und Arbeitsorganisation, spezialisiertes Handwerk sowie höhere Arbeitsproduktivität setzten große schöpferische Kräfte zugunsten der Kunst frei. Die neuen Inhalte wurden von Königtum, hohem Klerus und Städtebürgern bestimmt. Mit der Anerkennung des Individuums trat in der Gotik der Künstler aus der Anonymität hervor. Sonderformen der Gotik haben ihre Ursache in ökonomischen, sozialen, nationalen und geographischen Besonderheiten der Länder. Baukunst. Hauptaufgabe war der Kirchenbau, zunächst die Kathedrale, später die Pfarrkirche, die Basilika herrscht vor. Das Gebäude wurde als Einheit in Grundriss, Wandform und Wölbung aufgefasst. Die Seitenschiffe sind als Umgang mit Kapellen um den Chor geführt. In konstruktiver wie in ästhetischer Hinsicht sind Kreuzrippengewölbe und Spitzbogen entscheidend. Die Wand ist zu einem Gliederbau aus körperhaften Formen und Splitterflächen aufgelöst. Außen leiten Strebebögen und -pfeiler den Gewölbeschub ab, innen nehmen Dienste die Gewölberippen auf. Spezifische Schmuckform ist das Maßwerk. In der Spätgotik verwirklicht die Hallenkirche die volle Raumeinheit; die Wand ist in ihrer Kontinuität wieder hergestellt und bildet nur wenig gegliedert den Hintergrund für Altäre und virtuose Kleinarchitekturen. Stern- und Netzgewölbe lösen die Kreuzrippen ab und tragen mit umlaufenden Emporen zur Raumeinheit bei. Der bürgerl. Profanbau erlebte eine Blüte in Wohn-, Kommunal- und Wehrbauten. Am Ende der Gotik wandelte sich die Burg zum Schloss (Albrechtsburg in Meißen). Die Form der Arbeitsorganisation in der Gotik war die Bauhütte, sie wurde allmählich abgelöst durch die Zünfte. In Frankreich entstand mit dem Chor der Abteikirche St-Denis (1140/43) das erste gotische Bauwerk. Nach der Frühgotik (Kathedrale in Paris, seit 1165; Kathedrale in Laon, 1170/1230) wurde in der Hochgotik (Kathedralen von Chartres, 1195/1260; Reims, seit 1210; Amiens, seit 1220) klassische Reife erreicht. Extreme Möglichkeiten zeigen im Skelettbau die Ste-Chapelle in Paris (1243/48), im übertriebenen Vertikalismus die Kathedrale von Beauvais (seit 1247). In England, wo die Gotik Ende des 12. Jahrhundert eindrang, wird die Entwicklung in 3 Perioden gegliedert: Early English (1170/1270, bedeutende Werke die Kathedralen in Lincoln, Wells), Decorated Style (1270/1350, bedeutende Werke die Kathedrale von Lichfield sowie der Neu- und Ausbau der Kathedrale von Salisbury), Perpendicular Style (1350/Mitte 16. Jahrhundert, bedeutende Werke Kapelle Heinrichs VII. an Westminster Abbey in London, St. Georgs-Kapelle in Windsor Castle). Nach Italien gelangte die Gotik Anfang des 13. Jahrhundert, sie wurde hier vor allem von den Bettelorden getragen (San Francesco in Assisi), ein Hauptwerk ist der Mailänder Dom. Hier entstanden auch bedeutende Profanbauten wie die Loggia dei Lanzi, der Palazzo Vecchio in Florenz und der Dogenpalast in Venedig. In Deutschland ist das erste Bauwerk nach gotischem Plan der Magdeburger Dom (seit 1209), das bedeutendste der Hochgotik ist der Kölner Dom (seit 1248). Eine besondere Leistung sind die spätgotische Hallenkirchen (Annaberg-Buchholz, Annenkirche, 1499/1525). Große Bedeutung hatte die Gotik im hausteinarmen Nord- und Ostseegebiet (Backsteingotik). Plastik. Die Bildwerke des 13. Jahrhundert, meist Bauplastik, zeigen körperliche Volumen und Schwere, natürliche Körperbildung und ausdrucksstarke Gesichter, oft ist ein Streben nach idealer Schönheit deutlich. Um 1300 trat an die Stelle realistischer Gestaltung höflicher Konvention; Entschwerung und Entmaterialisierung (der «gotische Schwung») bestimmen die Figur, deren Körper unter dem Gewand zu verschwinden scheint. In der 2. Hälfte des 14. Jahrhundert entstanden neben naturnahen und lebenswahren Werken, etwa der Parierhütte Parier), mystisch übersteigerte Andachtsbilder. Die Bauplastik wurde abgelöst von Holzbildnerei, die sich an den Schreinaltären entfaltete, und Kleinplastik. Im «Weichen Stil» (1380/1430) kam es zu internationalem Austausch und Einheitlichkeit. Charakteristische Werke sind die «Schönen Madonnen». In Deutschland erlebte die spätgotische Plastik noch einen Höhepunkt (N. Gerhaert, M. Pacher, V. Stoß, T. Riemenschneider), ehe sie im sogenannt spätgotischer Barock (H. Backofen, M. Leinberger) ausklingt. Malerei. Die Wandmalerei lebte weiter, sie wurde besonders in Italien gepflegt, wo Giotto (1266/1337) bereits die Renaissance vorbereitete. Ein neues Gebiet der Monumentalmalerei wurde in der Glasmalerei gewonnen (Chartres, Erfurt, Halberstadt). In der Miniaturmalerei entwickelte zuerst die Pariser Schule um 1250 eine neue gotische Formensprache; reifste Werke entstanden um 1400 in Burgund (Stundenbuch des Herzogs von Berry, Turin-Mailänder Stundenbuch), sie leiteten zugleich die altniederländische Malerei ein. Die Tafelmalerei gelangte von bemalten Möbeln (Truhen, Schränke) über Altartafeln zum Staffeleibild, das sich im 15. Jahrhundert bereits gotischer Stilzwang entzieht. Die ersten graphischen Künste, Holzschnitt (um 1400) und Kupferstich (um 1430), wurden erfunden, damit konnten künstlerische Ideen schnell, billig und massenwirksam verbreitet werden.

Gotische Schrift, Gittergotisch, Textura: zur Gruppe der gebrochenen Schriften gehörende Schriftgattung, deren charakteristischer Merkmal das schmale, hohe Schriftbild mit abgewinkelten Grundstrichen und dünneren Strichen zur Verbindung der Buchstaben ist.